80 Jahre Kohl

Der Kohl wird 80. Der Rekordkanzler stand auch am Beginn meiner eigenen politischen Wahrnehmung und ich war 22 Jahre alt, als Kohl gehen mußte. Ich wußte gar nicht, dass auch jemand anders Kanzler sein konnte. Natürlich wußte es der Verstand, aber emotional war Kohl in der eigenen Wahrnehmung fast schon wie eine Art großer Papa, der eben von Bonn aus die Familiengeschicke leitet. Kohl stand für Wohlstandsbauch, Gemütsruhe, Gemütlichkeit, Mercedes S-Klasse, Kassengestell, Wolfgangsee und Mundart. Kein Wunder, dass Kohl auch im Mittelstand viel Bewunderer und Freunde hatte, auch wenn sie noch so oft auf die Politik schimpften (bspw. Probleme Frühverrentung, Ablösung D-Mark, etc.). Schröder und Merkel dagegen entsprechen einem Typus, dem der deutsche Mittelstand eher suspekt ist. Schröder sah in der VW-Aufsichtsratsbrille eher den Linken Einfluss auf die große Autopolitik (Auto als Gesellschaftsmodell), während Merkels technokratisch nüchterner Blick auf die Gesellschaft sich eher mit der Bürokratie großer Konzerne verbrüdert. Selbstgeschaffene Einflussbereiche von Bauern oder Familienunternehmen sind ihr emotional eher suspekt, auch wenn Sie aus der Provinz stammt, so ist das preußisch, protestantische Denken des Berliner Bürgertums, die sich in einer Linie mit Humboldt wähnen, eher ihre Gefühlsheimat.

Kohl dagegen war immer Provinz, katholisch und hemdsärmeliger Macher wie Aussitzer, nah am Wasser gebaut. Man erinnere sich an die Tränen in Verdun, wo er mit Mitterand Händchen hielt oder gar im Kern des deutschen Patriotismus, der Rede in Dresden 1990. Kohl war nicht nur im Kern höchst emotional und sensibel, seine Politik sah er immer im Lichte großer historischer Ereignisse. Es rührte ihn zu Tränen, wenn er an den großen Hebeln seinen Abdruck hinterließ, denn schnell sah sich der kleine Junge aus Pfalz an den Hebeln der Geschichte. Als Dr. der Geschichte wußte er ob der historischen Zusammenhänge und war keiner, der für das Klein-Klein zu haben war. Außenpolitisch und insbesondere europäisch war er derjenige, der in Frankreich nicht nur Aussöhnung, sondern Blutsbrüder suchte. Dumm nur, dass Mitterand weiß Gott nicht gerade mit den schönsten Erinnerungen an die deutsche Besatzung gesegnet war und auch die staatsgläubigen Gewerkschaften bedienen mußte. Von Paris aus mußte der tumbe Kohl mit mäßigem Französisch einfach wie ein Relikt aus pfälzischem Weinbau gewirkt haben, ein Weinbau, der höchstens zu mäßigem Verschnitt taugte. Franzosen überspielen dann natürlich gerne, dass grandiose Weißweine aus Deutschland stammen und wohl eher die milden Tropfen bei uns zu haben sind. Nicht von der Sonne, aber vom Regen verwöhnt. Eine Landschaft, in der auch der Kohl immer gut wächst.

Kohl liegt auch heute noch der Stadtbourgeoisie, der modernen (wie armen) urbanen Elite und natürlich der Linken  insgesamt quer im Bauch liegt, war ein Mann aus der Provinz für die Provinz. Kohl war zwar intellektuell fähig, aber er spielte eher seine emotionale Intelligenz aus als die analytische Intelligenz, die heute an Schmidt so bewundert wird, ihm damals aber immer den Frust der weniger Begabten einbrachte. Kohl war alles mögliche, sicher aber nicht arrogant, sondern alle glaubten ihm, dass er lange Autofahrten zum Gespräch mit seinem Fahrer Ecki nutzte – und zwar ohne ihn zu sezieren, sondern einfach nur, um aus dem Bauch heraus zu reden.

Auch brauchte Kohl viel zu lange, um das Thema Umwelt für die konservative Agenda zu entdecken. Da waren die Grünen schon gewachsen, als Kohl das Thema “Saurer Regen” und “Katalysator” für sich entdeckte. Kohl war in der CDU zu Hause und vielleicht vergißt mancher die harten Machtkämpfe, die er gegen einstige Weggefährten ausgetragen hat (Geissler, Späth, Süssmuth). Wer den Papa nicht mag, so könnte man denken, soll es sagen. Und wer den Papa nicht stütz, der kann sich vom Acker machen! Schäuble, perfekt qualifiziert für die Aufgabe des bundesdeutschen Administrators, wurde nicht umsonst von Kohl hingehalten bis es zu spät war. Kohl realisierte nicht, dass man Papa irgendwann leid war, die Jungen wollten auch mal ans Ruder und Papa ließ sie einfach nicht. Da in der CDU keiner die nötige Hausmacht hatte, mußte jemand ran, der die emotionale Tiefe von Kohl mitbrachte, aber die Mitte, die nach den 70ern immer in der CDU lag, nicht vergaß. Schröder passte da, den selbst die Industriebosse wußten, dass Schröders Drang zu Höherem auch bedeutete, dass er sich für gewisse Dinge hergeben würde. Schröder war nicht in der SPD zu Hause wie es Lafontaine war. Nur Lafontaine hatte nicht die gesellschaftliche Kleisterwirkung, die Schröder und Kohl inne hatten. Merkel, so absurd es sich anhören mag, verkörpert mit Ihrer Kühle Eigenschaften, die man schon eher bei Helmut Schmidt finden könnte. Nur zeichnet sie sich statt durch Schmidtsche Führungsstärke eher mit den Aussitzqualitäten des Kohlschen Machtuniversums aus. Merkel ist aber niemals so gefühlsduselig wie die Herren der Schöpfung, wie Kohl, Schröder oder gar Strauss, was ihr noch heute im konservativen Flügeln der CDU/CSU übel mitspielt. Da kann sie sich sogar bei Sigmar Gabriel eine Menge abgucken, der Punkt wird aber sein: Sie kann es so nicht tun und will es vermutlich nicht, denn es entspricht weder ihrer Selbstauffassung noch ihrer Persönlichkeit. Schröder dagegen war sehr anfällig für die kumpelhaften Umarmungen, das große Geld (man bedenke das goldene Immendorf Porträt), die großen Zigarren und schnicken Anzüge. Nicht gerade ein Mann, den man als Gewerkschaftler sehen könnte. Die Seele der Partei, dass wußte auch Schröder, als er als Parteivorsitzender zurücktrat, die Seele und das Herz der Partei schlugen viel weiter links als er selbst.

Man kann sich gut vorstellen, wie Kohl sich fühlt, wenn die Kanzler vor- und nach ihm ihre Glückwünsche aussprechen. Kleine Elefantentränen werden kullern. Der Spendenskandal war zwar ein Skandal, aber von der Größe her, man verbitte es mir, eine ganz kleine Amigo-Nummer, die moralisch vielleicht verwerflich war, aber nun mal immer noch legal. Kohl hat auch, soviel ist sicher, niemals selber in die Schatulle gegriffen. Es wäre somit traurig, wenn auch die eigenen Parteifreunde Kohl nur mit dem Etikett “Spendenskandal” versehen. Denn auch die Parteiseele ist näher an Kohl, immer noch, als an Merkel. Die Jungs (Rüttgers, Mappus, Seehofer, etc.) wissen dass ganz genau, strahlen aber lieber selber als Fixsterne in ihrem kleinen Firmament.

Die Vereinigung, dass muss für jeden Politiker wie ein Gottesgeschenk gewesen sein. Für Kohl war es sein persönlicher, historischer Auftrag, der ihn voll und ganz erfüllte. In der Situation damals, man erinnere sich an die Lafontaineschen Vorschläge, die ökonomisch teilweise sogar vernünftig waren (Währungsumstellung 1:1 war ökonomisch eine Katastrophe), aber vor allem die Angst der westdeutschen Arbeiterschicht kanalisierte. Kohl hielt sich damit nicht auf, wußte, dass es historisch über kurz oder lang nur einen Weg geben konnte, nämlich den dass gemeinsame Kulturräume auf Dauer nicht auseinandergerissen werden durften – erst Recht, wenn Sie einer Mauer bedürfen, um zu existieren. Das war und bleibt Kohls großer Verdienst und alles andere, auch die Politik anderer Kanzler vor wie nach ihm, wirken dagegen wie kleine Sandkastenspiele. Ob RAF und die 68er (Schmidt), die Versöhnung mit Polen (Brandt), Adenauer (Nato und Frankreich), Erhardt (Wirtschaftswunder), Schröder (Agenda 2010) und Merkel (Finanzkrise) – Kohl muss geschichtlich vermutlich sogar in eine Reihe mit Bismarck gestellt werden. Das mögen viele für lächerlich und den Wunsch konservativer Gralshüter sehen – aber geschichtliche Bedeutung entsteht eben nicht nur durch eine gewissen persönliche Größe: Es ist auch der Ausdruck einer Person, die geprägt wird durch die Strömungen seiner Zeit und der dann zur richtigen Zeit am richtigen Platz ist – und es dann eben nicht versemmelt. Planen kann dass keiner. Kohl im Glück.

Übrigens hat neben Heribert Prantl auch Prof. Fritz Walter, der Göttinger Parteienforscher, einen interessanten Beitrag zum Thema “Kohl Retrospektive” geschrieben. Jemand, dem man sicher nicht unterstellen würde, er sei in seiner Gefühlsheimat ein Konservativer, dass zudem auch noch im Spiegel: “Kohl lebte in Symbiose mit seiner Partei, wie er sich später mit der Mehrheit der Deutschen symbiotisch verbunden fühlte. Kohl – und das machte ebenfalls seine innere Stärke und psychische Stabilität aus – glaubte an sich, plagte sich nicht mit nagenden inneren Zweifeln, war nicht gepeinigt durch Zwiespalt oder Zerrissenheit wie andere, ihm intellektuell oft weit überragende, aber politisch deutlich unterlegene Politiker.” Dass sogar Verleger Augstein am Ende Kohl zugetan war gegen den Willen seiner eigenen Belegschaft, dass ist wiederum ein ganz anderes Thema. Bis dahin wünscht man auch dem Ex-Kanzler, soviel Respekt sollte auch bei alten Gegnern sein, alles Gute und vor allem gute Gesundheit.

Walter schreibt: “Gewiss, Helmut Kohl war längst nicht so klug, auch nicht so gebildet wie Strauß. Aber Kohl verfügte über bessere Menschenkenntnisse, konnte zumindest in den Jahren seines Aufstiegs auch ihm geistig überlegene Figuren im eigenen engeren Umfeld aushalten, was Strauß für sich nie erduldete. Und Kohl war ein wirklicher Mensch der Macht, was Strauß auf barocke Weise gern gewesen wäre und ausgekostet hätte, aber eben nie in letzter Entschlossenheit und praktischer Raffinesse war.

Kohl war ihm da gründlich überlegen. Er durchschaute seinen Kontrahenten, er kannte dessen Schwächen, nutzte sie virtuos. Kohl war im Spiel geblieben, weil er über einige Eigenschaften verfügte, die vielen oft weitaus begabteren Rivalen um die Macht abgingen:

  • Kohl konnte warten. Er war geduldig, zäh, resignierte nicht vorschnell, saß schwierige Zeiten mit langem Atem aus, steckte Rückschläge weg, ohne in Depressionen zu verfallen.
  • Kohl war ein robuster Politiker, weit robuster, als seine vier Vorgänger, Erhard, Kiesinger, Brandt, aber auch Helmut Schmidt.
  • In Kohls Vorstellungswelt existierten keine großen Ziele oder gar Utopien; er konnte daher nicht schnell enttäuscht oder frustriert werden.
  • Kohl war kein Intellektueller, der in sich versunken und vergrübelt über Paradoxien nachdachte, dialektisch in Komplexitäten reflektierte.

Kohl hielt sich eben für “normal”, im Einklang mit dem ganz alltäglichen Denken einfacher Menschen, die fleißig arbeiteten, aber auch fröhlich feierten, die in ihrer Heimat wurzelten, in ihren Familien geborgen waren, im Glauben Halt fanden. So lebte – dies die unerschütterliche Überzeugung Kohls – das Gros der Menschen in der Mitte der Gesellschaft; so war er selbst auch groß geworden; und so wollte er Politik machen: für die Mehrheit der Menschen in der Mitte – und nicht für Ideologien, Bürokratien oder Strukturen.”

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