Hysterie

Wähler in Hysterie

Hysterie

In den politischen Diskussionen entsteht jüngst eine neue Bewertung des Wählerwillens durch die herrschende Koalition. Nachdem das konservative Lager zersplittert und die AfD erstaunliche Erfolge mit geringem Organisationsgrad in wenigen Jahren erreicht hat, grenzt sich auch die CSU aggressiv von der CDU ab. Der schwarze Peter, so ist klar, ist die große Flüchtlingsschar, die Merkel (so die Diktion) ja ins Land geholt hat. Spätestens nachdem das Thema Flüchtlinge in England maßgeblich für die Entscheidung der ländlichen Bevölkerung als auch der (eher weißen) Unterschicht war, weiß jedes Land wie heiß dieses Thema debattiert wird. Neu ist aber, wie man innerhalb Deutschlands, ausgerechnet in der zerfallenden großen Koalition, die Entscheidungen des Wählers interpretiert. Sie sind einerseits zynisch, andererseits falsch adressiert und offenbaren schlichte Denkfehler.

Bei Anne Will wurde am letzten Sonntag der Grund für Protestwählerschaft verortet als Entscheidung gegen rationales Denken. Es sei nicht die falsche Politik, nein, man habe ja stets richtig gehandelt. Da sei Anfangs die Entscheidung für die Öffnung der ungarischen Grenze eine humane Entscheidung gewesen, die quasi christlich ethisch begründet gewesen sei. Nun, da man mit der gleichen Denke einen großen Strom von Menschen aufgenommen hat, die nicht das Motiv der Flucht aus Kriegsgebieten (größere Not als Wirtschaftsflucht) antrieb, habe man reagiert. Gar mit dem Sultan aus Istanbul wurde paktiert, um größere Flüchtlingszahlen (etwa aus Syrien?) zu vermeiden. All dies sei längst erfolgt, die CDU hat den Ruf der Basis aus Sauerland, Münsterland, Baden-Würtemberg und sicher erst recht aus Bayern vernommen. Es mag menschlich gewesen sein für die Flüchtlinge, denen es sicher so besser erging als in einem eiskalten Zeltlager voller Matsch an der griechisch-rumänischen Grenze. Doch die Helfer, sie waren nach Monaten der Dauerverausgabung ermüdet. Sie gaben alles, sie wollten helfen und sicher war diese Arbeit sinnvoll. Auf diese Menschen können wir stolz sein als Gesellschaft, denn sie deuten an, dass das kapitalistische Motiv des “was nützt mir dass?” in Geldeinheiten nicht für jeden Menschen maßgeblich ist. Und wer möchte in einer Gesellschaft, in der es nur um Geld geht? Nicht mal in Amerika, dem Mutterland des modernen Kapitalismus, ist dass der Fall.

Dann gibt es aber eine große Gruppe, deren Zahl wir schwer bemessen können. Einerseits handelt es sich um die Vergessenen. Die Langsamen. Die nicht so Lernbegierigen. Die Menschen, die mit vielen Barrieren und Hürden ins Leben getreten sind. Die sich aus sozialen Schiefstellungen vielleicht befreien können, aber noch nicht so leistungsfähig sind, dass sie in unserer wettbewerbsorientierten Gesellschaft mithalten können. Es liegt oft in der individuellen Psyche eine Problematik, die nicht so einfach weg zu diskutieren ist: Ein Mensch, der gesellschaftlich von Status und Stellungsverlust bedroht ist, sieht dies entweder als individuelles Versagen (was oft passiert) und ebenfalls psychisch problematisch ist (als Auslöser für Depressionen, Burn-Out, etc.). Oder aber, er kompensiert sein Leiden. Denn statt zu ertragen, dass es für ihn im Leben nicht mehr bergauf, sondern vielleicht “einfach nur so weiter oder bergab” geht, möchte er andere mitleiden sehen. Diese inneren Gedankenspiele sind meist nicht sehr kompliziert. Sie halten sich an schnelle logische Ketten wie “Warum diesem Flüchtling, der nicht aus Kriegsgebiet kommt, bei einer Wohnung helfen, während ich, Familienvater, Akademiker, stets Diener des Systems, seit Monaten keine Wohnung finde, die in mein Budget passt?”. Dumpfer geht auch: “Ich bin seit Jahren arbeitslos, keine Sau wettet noch einen Cent darauf, dass ich (im bürgerlichen Sinne) was werde. Mein Leben ist im Eimer. Die Frau ist weg, der Job ist furchtbar. Ich will hier weg. Aber ich weiß nicht wohin. Und jetzt kommen die hier hin? Und warum kümmern sich diese Lehrertypen, die mich so verachtet haben, jetzt mit Fürsorge um so ein dummes Kind von diesem Taliban?”

Die Politik hat für diese Denkschemen eine Bewertung erfunden, die ebenfalls nichts mit dem eigenen Versagen zu tun hat. Es sei halt nur noch nicht bei den Menschen angekommen, weshalb der Wähler (das niedrige Wesen), nur noch in Emotionen suhle und aus lauter Erregung eben falsch wählt. CDU Mann Patzelt aus Brandenburg sprach vom “postfaktischen” Zeitalter, also ein der Ratio entmanntes Zeitalter. Es gab schon viele Worte für diesen Zustand, am besten gefällt doch immer noch Harry G. Frankfurts kurzes Essay über “Bullshit“. Es beschreibt nichts anderes, eine Verdrehung der Wirklichkeit, die Äußerung von “absolutem Mist”, von nachprüfbarem Quatsch. Frankfurt:

“One of the most salient features of our culture is that there is so much bullshit. Everyone knows this. Each of us contributes his share. But we tend to take the situation for granted. Most people are rather confident of their ability to recognize bullshit and to avoid being taken in by it. So the phenomenon has not aroused much deliberate concern, or attracted much sustained inquiry. In consequence, we have no clear understanding of what bullshit is, why there is so much of it, or what functions it serves.”

Für entscheidend ist aber doch die politische Realität, wie sie im Bundestag, im Kommunalwahlkampf, in den Parteigremien oder Referaten der Ministerien stattfindet und der Realität, wie der Wähler sie aufnimmt. Wir wissen, dass trotz aller Beschwörungen über die Schlechtigkeit des Fernsehens der Konsum von Fernsehzeit zugenommen hat. Und zwar massiv (mehr als 3 h pro Tag), nicht gerechnet ist darin der Internetkonsum, der bei den jungen Menschen sicher sich auch stark mit Freizeit-, Ausbildung- wie Berufszeiten überlagert. Es ist ein Teppich der Allgegenwärtigkeit von Information entstanden. Diese Informationen müssen entstehen, jemand muss Daten ins System liefern. Es ist in Anbetracht der schwierigen Situation von Verlagen und Autoren aber nicht davon auszugehen, dass es sich um professionelle Kommunikatoren handelt. Nach Beuys ist jeder Mensch ein Künstler, aber besonders auch ein Sender und Empfänger. Und da die Voraussetzungen für Bewertung nicht jedem in die Wiege gelegt worden sind, wird auch einfach viel verbreitet, weitergeleitet, kopiert, Stuss geschrieben, belangloses, unreflektiertes. Gerade im letzteren scheint eine besondere Falle zu stecken. Noch vor 30 Jahren war davon auszugehen, dass sich Katastrophennachrichten (man denke mal an Tschernobyl 1986) zunächst über die Tagesschau verbreiteten. Es gab kein Livebild (erst nach 3 Tagen), es gab nur eine Karte, der Rest war der menschlichen Vorstellungskraft zur Aufgabe gegeben. Eine ganze Nacht verging, bevor man sich außerhalb des familiären Rahmens mit anderen unterhalten konnte. Nun aber beginnt die Diskussion über Terror, Flüchtlinge oder Umweltkatastrophen bereits dann, wenn erste unklare Informationen in den Äther gefunkt werden. Minuten später erste Sondersendungen, noch aus Fetzen gefüllt, ohne klare Struktur. Das Versprechen ähnelt dem von CNN anfang der 90er, als man bei Kriegsbeginn im Irak live dabei war. Nun ist man überall live dabei, dank Smartphones geschieht alles viel schneller.

Eins hat sich aber nicht geändert, die Verarbeitungsfähigkeit solcher Informationen im Hypothalamus. Der Mensch erzeugt Gefühle in Bruchteilen von Sekunden, der Impuls kann so schnell gar nicht rational bewertet werden, wie er bemerkt wird. Fortan entsteht ein merkwürdiger Zustand der Agitiertheit. Der Mensch ist mit Gefahreninformationen, mit schockierenden Bildern oder Hysterie konfrontiert. Das greift tief in die seelische Verarbeitung ein, denn trotz Exposition zu diesem Zustand kann ja nicht reagiert werden. Der verängstigte Zuschauer kann von seinem Wohnzimmersessel nicht flüchten, er bleibt sitzen und sieht den “Live-Tatort” in voller Intensität. Wegschauen geht nicht. Ist der Zuschauer nicht verängstigt, sondern wütend oder macht ihn dieser brutale Mensch gar aggressiv, so ist die Agitiertheit nicht weniger bedrohlich. Voller Wut möchte er reagieren, er will Vergeltung, Macht ausüben, Gegengewalt zumindest erleben, um wieder in Balance zu kommen. Nichts davon passiert. Rededuelle bei Plasberg, technokratische Diskussionen über die Unmöglichkeit der Präsenz des Militärs auf der Straße ob der Verfassung. Lauter zivilsatorische Hürden unserer hochentwickelten Kultur, um nicht in Barbarei und Wahnsinn zu verfallen. Doch der Wahnsinn ist faktisch ja da: Er findet nur im Inneren der Wähler statt. Und nicht jeder, davon ist mal sicher auszugehen, kann dies rational bewerten, was da passiert.

Es ist eine Übersteigerung der Vorstellung der Möglichkeit der Selbstkontrolle, der Disziplin, der Fähigkeit emotional intelligent zu reagieren, die dem Durchschnittsbürger da unterstellt wird. Der Mensch ist kein Apparat, er ist voller Emotionen. Und natürlich brauchen die in Ventil. Diese Ventile werden immer weniger: Auf der Arbeit im Massengroßraumbüro ist Dauertheater gefragt. In der Schule bitte 8 h ruhiges und konzentriertes Arbeiten. Beim Sport bitte schön die Regeln einhalten. Ich bin hier vielleicht Opfer meines eigenen Klischees, aber ich denke, gerade für Männer kann das ein Problem werden: Wer den Drang junger Männer sieht, sich zu messen, zu rangeln und Stärke zu beweisen, aber dagegen die gesellschaftliche Dauermahnung, bitte doch Ruhe zu bewahren, fragt sich: Wie halten die Jungs dass eigentlich aus, wenn Sie nicht auf den Sportplatz dürfen? Spätestens beim Blick auf Spielkonsolen wird einigen klar, warum da so viel gemordet, gefoltert und geschlachtet wird. Es ist sinnbildliche Triebabfuhr niederster Art die da entsteht. Man will sich gar nicht vorstellen, was aus diesen Jungs wird, wenn man Ihnen die Konsolen wegnimmt.

Postfaktisches Zeitalter? Meinetwegen, aber man sollte die Ursache nicht beim Bürger suchen, der sich (freiwillig) den Medien aussetzt. Die Medien haben sich bereitwillig und bewußt zu einem Anwalt der Hysterie gemacht. Maßgeblich auch durch die Verschiebung von Marktanteilen hin zu digitalen Medien (die von anderen Eigentümern kontrolliert werden) und den wirtschaftlichen Problemen der Verlage motiviert hat sich eine Art Dauerhysterie als Erfolgsrezept eingestellt. Ein kurzfristiges Erfolgsrezept, denn die Dauerhysterie ist irgendwann derart unerträglich, dass die ein oder anderen Bürger auch innerlich auf “Abstumpfen”, “Abschalten” und “Ignorieren” schalten werden. Dies sei den Sendeverantwortlichen gesagt, die bei jeder Schiesserei gleich auf Sondersendung gehen wollen. Niemanden kann ich da schwerer kritisieren als die Öffentlich-Rechtlichen, wo die Politik noch maßgeblichen Einfluss darauf ausüben kann, was sie unterlässt. Den Wähler zum postfaktischen Zeitalter zu deklarieren, das ist käse: Ein Teil der Interessierten ist so informiert und auf dem Laufenden wie früher Spitzenbeamte, die eigene Ressorts hatten, um sich auf den Stand zu bringen. Heute kann jeder enorm schnell Informationen bekommen, wenn er aktiv recherchiert. Aber er kann sich nicht wehren gegen einen Überfluss an emotional aufwühlender Information, dass ist den Menschen nicht mitgegeben von Evolutionsbeginn an. Ob der Mensch sich darauf hin gewöhnt, ist durchaus möglich – aber es wird wohl dauern, bis sich die Gehirne da entsprechend anders verdrahtet haben. Hirnforscher halten die Alternative aber für noch realistischer, dass sich unser Denken noch viel stärker in einen schwarz-weiß Sortiermodus verändert. Und so urteilen wir dann auch außerhalb des Digitalen: Nützlich. Unbrauchbar. Weg. Nehmen. Alles muss immer sofort passieren, sonst werden wir ungeduldig und ungenießbar. Und dass, so scheint es die Politik zu bemerken, passiert tatsächlich. Und dieser Modus des ungenießbaren, des hässlichen, des dämonisch aggressivem, der wählt. Und zwar wählt er die Zerstörung. Bei der AfD ist er da scheinbar ganz gut aufgehoben, denn von konstruktivem Denken hin zu einer positiven Zukunft hört man dort wenig, viel aber von einem zurück zum bewährten, zum richtigen, zum reinen, wahren schönen guten. Und das, das ist dann auch der Wähler. Der ist nämlich voller Ressentiments gegen Andere, gegen das Fremde, das Böse, nicht so schöne, nicht so wahre. Der Ruf nach Entlastung aus der digitalen Hetze ist da: Endlich weg mit dem Druck, mit der Schnelligkeit. Der digitale Prügel in den Facebook Spalten ist sofort da, der echte Prügel ist vorbehalten für die, die gesellschaftlich nicht soviel zu verlieren haben.

Also nein, liebe politische Aktiven, bitte, nimmt den Menschen so wie er ist: Fehlerhaft, voller Emotionen, unkontrolliert, selten rational und oft unerträglich. Die Antwort auf die Flüchtlingssituation ist leider unschön, aber sie ist wohl näher an der Wahrheit als das Gerede vom postfaktischen Zeitalter: Einige Menschen sind hilfsbereit und nett. Andere sehen nur sich. Aus Not, aus Überforderung oder weil sie schlicht kleine Herzen haben. Letzteres ist kein Maß für Erfolg in einer Wettbewerbsgesellschaft. Darüber reden ist schwer und bringt selten Applaus. Aber es ist notwendig. Denn noch mehr Bullshit kann keine Sau ertragen. Und die Säue, die wählen mehr und mehr die Anderen, wenn Ihr nicht Farbe bekennt.

P.S. Der Kanzlerin wird unterstellt, sie habe sich dieses eine Mal festgelegt und prompt sei sie Ihren Überzeugungen zum Opfer gefallen. Ich halte dies für Quatsch, gerade bei der Energiewende durch Fukushima hat die Kanzlerin bewiesen, welche Utopien sie bereit ist zu verfolgen, so gewaltig die wirtschaftlichen Umwälzungen und Verschiebungen auch sein mögen. Nur damals gab es wirtschaftliche Gewinner (Bauern, Industrie) und Verlierer (RWE, EON, etc.), die Flüchtlingssituation ist ethisch positiv, wirtschaftlich aber ziemlich wahrscheinlich ein Totalausfall. Geburtennot und Überalterung lässt sich derart, soviel ist für mich klar, nicht in den Griff kriegen. Da ist ja noch das Thema mit der Kultur und die sind verschiedener als man so denkt…

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