Der Stress der Sau: Stallwelten

Zum Tierwohl gibt es viele Sonntagsreden und „runde Tische“. Schweine zu mästen bleibt aber eine Drecksarbeit. Dafür, dass die Tiere künftig besser leben können, braucht es Menschen wie Frau Lechner.

Aus dem FAZ Artikel “„Sie hat uns die Augen geöffnet“” von Jan Grossarth über Mirjam Lechner, Unternehmensberaterin für Schweinemäster und die grundlegenden Probleme in der Tierzucht:

“Auch die Politik, auch die Handelsketten wie Rewe und Lidl, haben erkannt, dass es Probleme gibt. Aber auch, dass die Bauern die ärmsten Würstchen im Getriebe sind; dass die notwendigen großen Änderungen nicht ohne den Handel kommen, nicht ohne Ordnungsrecht. Um die Verbesserungen zu messen, ist seit wenigen Jahren eine Zielgröße definiert: der Schwanz. Wenn der Ringelschwanz eines Schweins bei der Schlachtung noch vollkommen sei, also nicht an- oder abgefressen, sei dies ein Indikator für „Tierwohl“, heißt es. Der damalige Agrarminister Niedersachsens, Christian Meyer von den Grünen, erfand vor wenigen Jahren eine „Ringelschwanzprämie“. Rund 17 Euro bekommt ein Bauer vom Staat für jeden heilen Schwanz. In Niedersachsen haben die Bauern in diesem Jahr für gut zweihunderttausend Schweine Prämie beantragt.

Manche Erzeugergemeinschaften haben das Modell adaptiert. Aber wenn der heile Ringelschwanz ein Kriterium für ordentliche Tierhaltung wäre – wie ist das zu schaffen? Viele Wissenschaftler machten Experimente: Mit der Stallbeleuchtung, dem Futter, dem Platz für die Tiere, „Beschäftigungsmaterial“. Die Schweine sollen sich so wohl fühlen, dass sie nicht anfangen, einander an den blutigen Schwänzchen zu knabbern. Das Ergebnis mehrjähriger Forschung: Es ist sehr schwierig, das abzustellen.

Mirjam Lechner weiß, warum. Ihr Kinderblick ist klüger. Sie sieht diese Stallwelten auch nicht, wie der Mäster, jeden Tag. Sie kommt immer wieder von außen rein, sie verliert ihr Gespür nicht im Schweiße des Alltags und Gestank der Sickergruben. Die Wissenschaftler und Tierzuchtingenieure, die sich in den vergangenen Jahren mit dem Problem des Schwanzbeißens befasst haben, waren meist davon ausgegangen, dass es Schwanzbeißer gebe. Schweine, die einfach aggressiver seien als andere. Vergleichbar mit den ADHS-Kindern. Landwirte haben behauptet, sie seien gewissermaßen machtlos, wenn sie von den Züchtern Ferkel geliefert bekämen, die Schwanzbeißer seien; da könne man auch bei fachgerechtester Versorgung die Ringelschwanzprämie nicht erreichen.

„Darmgesundheit ist das A und O“

Mirjam Lechner zweifelt daran, dass es das gibt, Schwanzbeißer. „Ich stelle manchmal in Frage, ob das Beißen überhaupt eine klassische Verhaltensstörung ist.“ Sie sieht ein Teil des Problems systematischer begründet: im Stress der Sauen und Ferkel, in falscher, nur in der Orientierung auf schnelles Wachstum ausgewählten Tierernährung. „Darmgesundheit ist das A und O“, sagt sie. Der Bewegungsmangel kommt hinzu. All das befördert Entzündungen, Nekrosen, ein Absterben von Zellen. Die stimulieren das Schwanzbeißen. In diesem Sinne zeigte Mirjam Lechner, dass Ferkel oft schon krank zur Welt kämen. Wenn sie sich an ihre Mutter kuscheln, sei das kein Zeichen von Liebe und Gesundheit, sondern davon, dass sie fiebern. Das Problem, welches durch das Schwanzbeißen sichtbar wird, liegt tief.

Viele Bauern, sagt sie, hätten auch verlernt, ihre Tiere zu berühren: „Wenn man nicht begreift, was das Tier hat, muss man es erst mal anfassen. Begreifen fängt mit Anfassen an.“

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