Merkel, Michel und der deutsche Absturz

Deutschland ist Provinz. Deutschland ist Dorf, nicht Metropole. Selbst in seinen größten Städten wie Berlin ist das Dorf präsent, denn selbst Berlin reicht weder an Paris, noch Tokio, noch New York, noch irgendeine andere Metropole heran. Dazu sind die Städte zu klein, international zu unbedeutend und auch nur gemäßigt groß im Vergleich zu vielen anderen Mittelstädten. Das bestimmt natürlich auch das Denken. Nicht allein die Pendlerpauschale beweist dies, unser Land ist geprägt von einem Ausgleich von Großstadt zur Provinz, von Mittelstädten und auch sonst viel Kleinbürgertum. Deutschland liebt das MIttelmaß, den Mittelstand, den goldenen Mittelweg. Was oft als große Stärke beschrieben, ist in der Krise ein großes Problem, wenn es um Entscheidungen geht. Denn da muß man denken, rational, aber entschlussfreudig. In Deutschland passiert aktuell weder das eine noch das andere – es wird weder ausgeschlossen noch beschlossen. Wie denkt man also hierzulande?

Das deutsche Denken wird gern mit einem Bild beschrieben, dem Bild vom deutschen Michel. Es ist nicht unser Bild von uns selbst, die Deutschen mögen dieses Bild nicht. Und dennoch ist es die treffendste Beschreibung unserer Volksseele. Als Wappentier wählten wir den Adler, doch welche Wesensgemeinschaft haben wir mit einem Adler? Wir schweben nicht, wir sind eher plump und schwerfällig. Wir sind nicht stolz, sondern haben die Selbstzweifel eines Hahns in den Wechseljahren, gemütlich und ein wenig schläfrig. Erfunden haben dieses Bild dennoch nicht die europäischen Nachbarn, sondern die geistige Elite der Deutschen selbst, die immer wieder über ihre tumben Stammtischdenker schimpften, die nicht so recht in Ihr Bild von sich selbst passen wollten. Es ist gleichzeitig Ausdruck der Verzweiflung der Eliten über Ihr Land, es ist Zeichen Ihrer eigenen Unfähigkeit der Versöhnung mit der Volksseele, die immer auch von Spaltung getrieben war.

Das Bild vom deutschen Michel

Bedeutendstes Attribut des deutschen Michel ist seine Zipfelmütze und der von Wurst wohlgenährte Bierbauch in Filzpantoffeln. Der deutsche Michel braucht Gemütlichkeit, Biederkeit und hat ein ausgeprägtes privates wie öffentliches Ruhebedürfnis. Als ich im Jahr 2000 die chinesische Mauer besuchte, so ist mir noch unser chinesischer Reiseführer ob seiner Kenntnis der Deutschen im Gedächtnis geblieben. Der wußte gleich, daß WIR, die deutsche Gruppe, nicht dort hin wollten, wo alle anderen Touristen waren, nein. Die Deutschen wollen, das wußte der clevere Chinese gleich, zum “deutschen Abschnitt”: Dort, wo sie ganz allein mit sich sind, ganz allein und “in Ruhe” sich einen Überblick verschaffen wollen und die Mauer einen Moment lang für sich selbst haben können. Fern von den nervigen Nachbarn, die mit den fremden Sprachen und all Ihrer Unruhe. Die Deutschen sehnen sich ja auch nach “einsamen Sandstränden”, wo doch die Russen beim Sommerurlaub eher die kollektive Orgie bevorzugen. Es gibt wenige Kulturen, die diesen merkwürdigen Hang zur Einsamkeit und zur Ruhe verspüren, der Rest der Welt liebt es oft gesellig und laut, denk einer mal an die jungen asiatischen Völker. Ja, da kommt dann schnell das Gerede: Deutschland war ja eine schwere Geburt, immer Kleinstaaterei, Dörfer, keine Metropole wie London oder Paris, 30jähriger Krieg, wenig Platz und so vieles mehr. Aber was ändert das am Bild der Deutschen? Heute ist das Bild vom deutschen Michel wohl nur insoweit zu ändern, als daß er von einem jungen zwanzigjährigen Mann sich in einen über vierzig Jahre alten Beinahrentner verwandelt hat, denn die Volksseele ist nicht nur träge, sie wird auch älter. Deutschland vergreist.

Es ist auch zu bemerken, daß der deutsche Michel IMMER ein Mann ist, während die vergeistigten Franzosen eine Frau für Ihre Seelenbeschau wählten, die Marianne. Von soviel Hormonschüben waren die Deutschen aber leider verschont. Auch heute ist der Umgang mit der holden Weiblichkeit dem deutschem Michel nicht in die Wiege gelegt worden, er charmiert selten, er ist auch etwas ängstlich ob all der Gewalt der Frauenzimmer über Ihn. Eine Frau Merkel trägt nicht Abendkleider von Givenchy (ja, einmal hat sie es getan und wir jaulen noch immer), sie lauscht Wagner und sieht eher der Metzgersgattin ähnlich als der französischen Marianne, für die Letitia Casta Patin sein durfte. Gut, der französische Hahn ist ja auch noch da, die Deutschen haben einen Adler. Aber so selten man in Paris Hähne lebend sieht, wo um Himmels willen sieht man in Deutschland mal einen Adler? Die Deutschen wären gerne Adler, aber sie sind doch meist dicker kleiner Michel vom Dorf, geben wir es doch einfach mal zu, es tut ja nicht weh.

England, Frankreich und den USA nutzen den Michel in ihren Kolumnen und Skizzen auch heute immer wieder (z.B. Charlemagne im Economist). Der Nazi ist natürlich auch Teil im Schattenkabinett, kann aber auch aus Sicht der Engländer als eine Abart des Michels verstanden werden: Ein gereizter Raufbold, ein trunkener Schlächter, der sich aus seiner nationalen Depression mit aller Gewalt befreien will. Aber der Michel reicht auch für das andere Extrem: Ein Land, das David Hasselhoff liebte, Diddl-Mäuse sammelt und immer noch Eisenbahnimperien in Hobbykellern (ein Wort, das andere Sprachen übrigens gar nicht kennen!) pflanzt. Ein Land, daß Sekundärtugenden nicht nur in KZs wichtig findet und immer noch stolz ist auf Autobahnen, Autos und Export, seien die Strassen auch noch so voll. Freie Fahrt für freie Bürger!

Zur Herkunft des Michel

In der Wissenschaft hat sich heute allgemein die Ansicht durchgesetzt, dass es sich bei der Redewendung „ein teutscher Michel“ um eine Geburt der Renaissance handelt. Der Humanismus in Deutschland hatte sich das Latein zur Sprache gewählt. Dadurch entstand zwischen der Sprache der Bildung und der des Volkes eine Kluft. Dies führte zu einer geistigen Kultur, die den Anschluss an das Ausland suchte. In diesem Zusammenhang entstand die Redewendung vom teutschen Michel vermutlich in einem Zusammenspiel ausländischer Stereotype der Renaissance vom völlenden, saufenden und schlaftrunkenen Deutschen, mit dem ebenso negativ belegten deutschen Bauernbild des ausgehenden Mittelalters.

Das angesehenste Wirtschaftsblatt überhaupt, der englische Economist, liebt dieses Bild heiß und innig, wenn er über die deutsche Wirtschaft schreibt. Sein Bild ist etwas bajuwarisch angehaucht und entspricht dennoch dem gleichen Cliché. Tja, und wie es so ist mit allen Clichés, es ist oft etwas Wahres dran. Und wollen die Deutschen noch so modern sein, erinnern sich an die aufgeklärten Könige wie Friedrich II. und all die Dichter, Denker und Komponisten, so ist Ihnen allen oft was gemeinsam: Sie waren verflucht einsam in einem völlenden, saufenden und tumben Umfeld, das sich geistig am Stammtisch am wohlsten fühlt, daß die Bildzeitung selbst auf Mallorca in die Millionauflage trieb. Ob Bach oder Hegel, sie waren Eremiten in dörflichem Umfeld. Auch Goethe war nur Provinzminister, kein Geheimrat von nationaler Bedeutung. Und wie brauchte er Italien, um sich mal vom Muff zu befreien, denn die Provinz machmal einfach nicht verlieren will?

Das Bild des Michels heute

Nun, Zeit der Finanzkrise, fällt Nobelpreisträger Paul Krugman mit einer Schimpftyrade über die deutschen Politiker her, indem auch er genau dieses Bild des deutschen Michel zeichnet. “Merkel und Steinbrück”, so der 55-jährige Ökonom im SPIEGEL-Interview, “denken immer noch in den Kategorien einer Welt, wie sie vor ein oder zwei Jahren zu sein schien, mit Inflation und Defiziten als größter Gefahr.” Die Folge: Sie verkennen den Ernst der Wirtschaftskrise und verschwenden so wertvolle Zeit – für Deutschland und für Europa.” Seine Vermutung: “Vielleicht fehlt ihnen intellektuelle Beweglichkeit.”Entschieden weist der Princeton-Ökonom außerdem Sorgen der Regierung zurück, die Deutschen müssten bloß für die Fehler und Probleme der anderen zahlen. “Das ist verständlich, aber kleinlich, wenn sich zugleich die europäische und besonders auch die deutsche Wirtschaft in großer Gefahr befinden.”Dass Steuersenkungen verpuffen könnten, sei “nur ein Argument für eine besseres Programm. Und kein Grund dafür, nichts zu tun”, so Krugman weiter. Den Deutschen empfiehlt er, sich so weit es nur geht auf öffentliche Investitionen zu konzentrieren. Vor allem aber sollten sie rasch handeln: “Das Perfekte ist der Feind des Guten. Wir befinden uns in einem drastischen Niedergang und müssen schnell so viel wie möglich unternehmen. Nachhaltige Anreize sind entscheidend, egal in welcher Zusammensetzung”. Wenn die Berliner Regierung nicht handle, drohe “ein sehr, sehr ernster Absturz mit den schlimmsten Arbeitslosenzahlen seit den dreißiger Jahren und im Anschluss womöglich ein verlorenes Jahrzehnt nach japanischem Muster”, sagt der Wirtschaftsprofessor gegenüber dem SPIEGEL. Deutsche Wissenschaftler empfehlen dagegen eine Politik der ruhigen Hand. Was könnte also Deutscher sein als dieser Rat? Deutsche Politiker haben in Ihren Kernzielen komplett versagt: Die Steuerbelastung ist gestiegen und die Sicherungssysteme sind immer teurer geworden, nun ist also seitens der Bürger wenig Speck da, der durch die Krise helfen könnte und nur wenige Eliten haben sich an dieser Misere bedient.
Tja, da hat der Krugman ja nicht unrecht, nur was tun, wenn die Eliten unseres Führungspersonals eben nicht in Princeton und Harvard Ihre Ausbildung erhalten haben, sondern im beschaulichen Göttingen, Tübingen oder anderen verschlafenen Nestern, deren akademische Elfenbeintürmchen jeden Kontakt mit Ihrer Außenwelt verloren haben? Wenn Ihre Wähler lieber immer nach Malle brausen, statt sich dem Fremden zu öffnen? Und das “auch gut so finden”? Von langfristiger Strategie und Ausrichtung keine Spur, von Populismus und Appellen an Herstellung der öffentlich Ruhe und Besinnlichkeit zu Weihnachten mangelt es nicht.
Der deutsche Michel hat Tradition, doch hat das Ausland den Umgang mit ihm wohl auch noch nicht recht gelernt. Es nützt nichts, ihn unter Druck zu setzen. Da isst er mehr Wurst, trinkt nur mehr Bier und ist noch verschlafener und träger. Setzt Euch hin mit ihm an einen Tisch, beredet die Situation und laßt ihm die Option zu handeln. Im Grunde ist er ja gutmütig, nur unter Druck wird er unangenehm. Er braucht noch ein wenig Zeit zum Ausschlafen, außerdem ist bald das wichtigste Fest der Deutschen – Weihnachten. Da ist erstmal wieder Völlerei angesagt, doch wenn das neue Jahr beginnt: Einfach kaltes Wasser nehmen! Sonst ruft er wieder nach Recht und Ordnung, das hatten wir schon Mal. War ziemlich unangenehm, damals, nicht nur für den deutschen Michel. Denn da wußten ja unsere “Führer” noch, wo es lang ging: Immer nach Osten! So einfach ist das heute nicht, mit dem deutschen Michel. Der muß erstmal seinen Frieden finden, seinen eigenen Seelenfrieden. Dann kann er auch helfend einschreiten. Und damit wird es verdammt nochmal Zeit. Eine so ans Ausland gekoppelte Volkswirtschaft wie die Deutsche wird im besonderen Maße von der Krise betroffen sein, denn die Inlandskonjunktur kann sie nicht abfangen, unsere eigene Binnennachfrage kann nie unsere wahnwitzigen Exportquoten ausgleichen: “Wenn wir auf das Licht am Ende des Tunnels warten, dann muß es erstmal finster werden.” Keine Sorge, das ist gerade der Fall. Auch schön, welches Bild man aktuell zum Lichte im Tunnel hört: “Man muß nur aufpassen, nicht daß das Licht am Ende des Tunnels ein entgegekommender D-Zug ist.” Ja, Schiss haben sie auch, die deutschen Michel.

Zum Abschluss dieser kleinen Tirade ein filmisches Werk, für mich eines der lustigsten Bilder der Deutschen, Augustus Gloop in Roald Dahls “Willy Wonka und die Schokoladenfabrik”. Im Remake von Tim Burton spielt die Figur des Metzgersbubs Augustus aus Düsseldorf, immer gut beschützt von seiner Mama, all die schönsten Clichés über den “teutschen Michel” aus. Schade, ihm fehlt nur noch die Zipfelmütze.

Als kleine Zugabe der wunderbare Song über Augustus Gloop, ebenfalls aus dem Tim Burton-Film:
“Augustus Gloop! Augustus Gloop!The great big greedy nincompoop!How long could we allow this beastTo gorge and guzzle, feed and feastOn everything he wanted to?Great Scott! It simply wouldn’t do!However long this pig might live,We’re positive he’d never giveEven the smallest bit of funOr happiness to anyone.So what we do in cases suchAs this, we use the gentle touch,And carefully we take the bratAnd turn him into something thatWill give great pleasure to us all–A doll, for instance, or a ball,Or marbles or a rocking horse.But this revolting boy, of course,Was so unutterably vile,So greedy, foul, and infantileHe left a most disgusting tasteInside our mouths, and so in hasteWe chose a thing that, come what may,Would take the nasty taste away.’Come on!’ we cried, ‘The time is ripeTo send him shooting up the pipe!He has to go! It has to be!’And very soon, he’s going to seeInside the room to which he’s goneSome funny things are going on.But don’t, dear children, be alarmed;Augustus Gloop will not be harmed,Although, of course, we must admitHe will be altered quite a bit.He’ll be quite changed from what he’s been,When he goes through the fudge machine:Slowly, the wheels go round and round,The cogs begin to grind and pound;A hundred knives go slice, slice, slice;We add some sugar, cream, and spice;We boil him for a minute more,Until we’re absolutely sureThat all the greed and all the gallIs boiled away for once and all.Then out he comes! And now! By grace!A miracle has taken place!This boy, who only just beforeWas loathed by men from shore to shore,This greedy brute, this louse’s ear,Is loved by people everywhere!For who could hate or bear a grudgeAgainst a luscious bit of fudge?”

Hoffen wir mal das Beste. Für den Michel, auf daß er sich macht – ansonsten daß es ihn irgendwann durch den Lokus spült!

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