Die verrückte Mär vom irren Markt

Von Professor Fritz Strack, zitiert aus Spiegel Online 25.10.08:

Wenn Wirtschaftswissenschaftler nicht mehr weiter wissen, nehmen sie oft Zuflucht zu der Ludwig Erhard zugeschriebenen Einsicht, dass 50 Prozent der Ökonomie Psychologie seien. Damit wollen sie darauf aufmerksam machen, dass menschliches Verhalten eben oft emotional bestimmt ist und nicht von den Theorien der rationalen Wirtschaftswissenschaften erklärt werden kann.

Die gegenwärtige Finanzkrise ist ein ausgezeichnetes Beispiel. Die Ökonomie steht ratlos vor einer Entwicklung, die sie nicht vorhersagen konnte, und flüchtet in die Emotionalität. Plötzlich ist es nicht mehr das “normale” Gewinnstreben, welches das Handeln der Akteure bestimmt, sondern deren übermäßige Gier. Diese Sichtweise hat Vorteile. So können die Wirtschaftswissenschaften ihre Zuständigkeit zurückweisen und das Verhalten in die Nähe einer Todsünde rücken und pathologisieren. Dann sind die Seelsorger gefragt und nicht mehr die Ökonomen.

So gelegen diese Einschätzung auch kommen mag, die willkürliche Ausgrenzung eines Verhaltens trägt wenig zu dessen tieferem Verständnis bei, zumal man vom Ergebnis einer Handlung keineswegs auf den zugrunde liegenden Prozess schließen kann. Auch rationale Überlegungen können zu Fehlentscheidungen führen, und eine Schwäche der Vernunft ist nicht zwangsläufig ein Beleg für emotionales Handeln.

Ein Beispiel ist die Einschätzung des Risikos. Aus ökonomischer und psychologischer Sicht ist der Nutzen einer Entscheidung nicht nur am Wert des Ergebnisses zu messen, sondern auch an der Wahrscheinlichkeit seines Eintretens. Der Nutzen wird deshalb als das Produkt aus Wert und Erwartung definiert, so dass der sichere Gewinn von hundert Euro als genauso nützlich gilt wie der Gewinn von tausend Euro mit einer Wahrscheinlichkeit von zehn Prozent.

Während Entscheidungsträger sich einfach am Wert eines Ergebnisses – der ja in Geldeinheiten leicht erfassbar ist – orientieren können, ist die Wahrscheinlichkeit des Eintretens, das Risiko, viel schwerer greifbar. Dies ist ein Grund, warum Glücksspiele so populär sind. Es macht für uns kaum einen Unterschied, ob die Gewinnchance bei einem Zehntel oder einem Hundertstel Prozent liegt, obwohl sich der Nutzen um ein Zehnfaches unterscheidet. Deshalb nehmen wir für einen potentiell hohen Gewinn viel mehr Verlust in Kauf, als es auf der Grundlage der Wahrscheinlichkeit seines Eintretens gerechtfertigt wäre. Und aus demselben Grund sind wir bereit, für einen Zinspunkt mehr die Bank zu wechseln, selbst wenn dies eine Vervielfachung der Verlustwahrscheinlichkeit bedeutet.

Um überhaupt eine Risikoeinschätzung vornehmen zu können, werden meist Heuristiken (einfache Faustregeln) angewandt, wie zum Beispiel ein vermeintlicher Trend bei der Wertentwicklung in der Vergangenheit oder die Einschätzung von Experten. Diese menschliche Schwäche öffnet natürlich Tür und Tor für gezielte Einflussnahmen und Manipulationen. Dies gilt umso mehr, wenn das Risiko verschleiert wird – wie bei den Finanzderivaten, die wesentlich zur jetzigen Krise beigetragen haben. Und wenn die Experten (hier: die Rating-Agenturen) mit den Anbietern unter einer Decke stecken, ist der Kunde völlig verloren.

Dazu kommen Anreizsysteme, die es Verkäufern und Käufern ersparen, das Risiko realistisch einzuschätzen. Dies ist vor allem dann der Fall, wenn die Entscheidung dem Handelnden selbst keinen Schaden zufügt. Kurzfristige Belohnungssysteme, die lediglich von der Höhe des Gewinns bestimmt werden, ohne bei Misserfolg einen Verlust spürbar zu machen, verhindern eine ausreichende Berücksichtigung des Risikos. Deshalb sind Prämien, die sich auf einen längeren Zeitraum erstrecken, viel besser geeignet, auch Verluste und somit das Risiko in die Entscheidung einfließen zu lassen.

Aus psychologischer Perspektive ist die derzeitige Finanzkrise deshalb auf ein grundlegendes menschliches Defizit zurückzuführen: die Schwierigkeit, Wahrscheinlichkeiten richtig einzuschätzen und diese bei Entscheidungen angemessen zu berücksichtigen. Und diese Schwäche wurde in ihrer Wirkung durch fehlende Transparenz und risikoloses Gewinnstreben potenziert.

Wenn der Vorstandsvorsitzende der Deutschen Bank seinem Unternehmen eine Rendite von 25 Prozent vorgibt, so hat dies nichts mit einer üblichen Wertschöpfung zu tun. Ein solches Ziel ist nur erreichbar, wenn es der Bank gelingt, im großen Geschäft der Risiken erfolgreich mitzumischen. Dass dies in eine Selbsttäuschung mündete, ist die Ironie des Schicksals.

Aber es war nicht die Gier, die Herrn Ackermann, seine Kollegen und Mitarbeiter oder gar die Kleinsparer auf diesen Weg geführt hat. Es war das gemeine Gewinnstreben, das in der Konkurrenz mit anderen Investmentbanken katastrophale “Benchmarks” gesetzt hat und ihren Kunden die Illusion der höheren Rendite ohne entsprechendes Risiko verkauft hat.

Sicher, die betroffenen Finanzakteure haben versagt. Trotzdem ist es wenig nützlich, ihrem Verhalten einen Sonderstatus zu verleihen. Es ist sinnlos, bei den Betroffenen Reue oder therapeutische Einsicht zu erwarten. Bewusste Täuschung muss bestraft und Fahrlässigkeit sanktioniert werden. Vor allem aber ist es erforderlich, Regeln für wirtschaftliches Handeln vorzugeben, die Defizite der menschlichen Urteilsbildung in Betracht ziehen und die Beteiligten vor der Ausbeutung ihrer Schwächen schützen. Dies gilt für den riskanten Einsatz von Geld nicht nur am Spieltisch, sondern auch am Bankschalter.

Dazu sind nicht nur Erkenntnisse der Ökonomie, sondern aller Wissenschaften von Bedeutung, die menschliches Urteilen und Handeln zum Gegenstand haben.

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