Das akademische Vorurteil westlicher Liberaler lautet: Die Araber sind noch im Mittelalter gefangen, weil sie schlicht keine Aufklärung durchlebt haben. Also ein noch nicht erfülltes Nachholbedürfnis haben. Falsch und leider ein Urteil ohne hintergründige Kenntnis der arabischen Kultur, Ihrer Philosophie, Ihrer Politik und nicht zuletzt Ihrer Religion. Quasi, auch wenn es nicht so wirkt, ein “Sarrazin”-Argument: Vereinfacht, im Kern sogar populistisch, dumpf und ohne Hintergrundwissen, aber nicht weniger gefährlich. Denn darin steht eine Abwertung statt zu erkennen, dass es sich nicht um ein Nachholbedürfnis handelt. Die arabische Kultur ist religiös wie politisch eben nicht vergleichbar mit der des westlichen Abendlandes, Ihr Bedürfnis zur Reformmierung gründet sich anders als im Ausgang des christlichen Mittelalters. Über Jahrhunderte hinweg war die islamische Gesellschaft, wie wir immer wieder feststellen dürfen, der westlichen wissenschaftlich und kulturell weit überlegen. Wieso kehrten sich die Verhältnisse also wirklich um, denn davon zeugt letztlich die Gegenwart? Prof. A. Flores über das Erbe, das den Nahen Osten prägt.
Von Annette Bruhns und Dietmar Pieper, Spiegel Online vom 20. Dezember 2017.
Alexander Flores studierte Soziologie, Germanistik, Arabistik und Islamwissenschaft an der Universität Münster. Er forschte und lehrte an den Universitäten Essen, Birzeit (Westjordanland), Erlangen, Hamburg, Berlin und Würzburg. Von 1995 bis 2014 war er Professor für Wirtschaftsarabistik an der Hochschule Bremen. Flores ist Autor vieler Bücher, darunter “Islam – Zivilisation oder Barbarei?”.
SPIEGEL: Herr Professor Flores, den kometenhaften Aufstieg der islamischen Welt im Mittelalter führen manche Historiker auf die Toleranz und Aufgeschlossenheit muslimischer Philosophen zurück. In der Neuzeit wurde das einst bestaunte Morgenland von Europa überholt. War die wissenschaftliche Neugier verloren gegangen?
Flores: Ich halte die Ausgangsthese für falsch. Die intellektuelle Entwicklung war zwar enorm, aber nicht Grund des Aufstiegs. Den sehe ich in der realhistorischen Entwicklung. In kurzer Zeit entstand ein riesiger einheitlicher muslimischer Herrschaftsbereich – und die Sieger waren so schlau, von den eroberten Kulturen und den Nachbarn zu lernen.
SPIEGEL: Erst die wirtschaftlich-militärische Dominanz hat also die Kräfte freigesetzt für kulturelles Schaffen?
Flores: Genau. Man ist ja dann besonders aufgeschlossen, wenn man sich stark fühlt. Die Kalifen förderten Denker und Forscher. Ohne diese große geistige Freiheit wäre die Entstehung dieser Zivilisation in der Tat undenkbar.
SPIEGEL: Von welchem Zeitraum reden wir eigentlich bei der “Blüte des Islam”?
Flores: Von den ersten zwei Jahrhunderten der abbasidischen Zeit, also etwa 750 bis 950.
SPIEGEL: War das damals noch ein überwiegend arabischer Raum – im Gegensatz zu heute, wo die meisten Muslime auf der Welt ja keine Araber sind?
Flores: Die Sprache von Religion und Wissenschaft war arabisch. Auch wenn anderssprachige Völker wie Perser oder Berber dieses Reich mitprägten.
SPIEGEL: Und warum fiel nun das Morgenland gegenüber Europa zurück?
Flores: Das war ein sehr langsamer Prozess. Man kann nicht, wie einige Historiker es tun, von einem generellen Niedergang ab dem 11. Jahrhundert reden. Sondern eher von einer Stagnation, ausgehend von der Wirtschaft, die mit dem Erreichen der größten Ausdehnung – grob gesagt von Samarkand bis Spanien – nicht mehr wuchs. Ihre Blüte war vor allem dem Fernhandel geschuldet. Der arabisch-iranische Raum verband Weltregionen miteinander: Europa, Zentral- und Südasien, das subsaharische Afrika. Alle Karawanen passierten diesen Raum; dabei setzte sich viel Reichtum ab. Doch dieser Handel war auf Stabilität angewiesen. Als das abbasidische Kalifat zerbrach, nahm die Stabilität ab. Wenn etwa habgierige Herrscher räuberisch auf Vermögen zugreifen, lassen sich keine größeren Kapitalien ansammeln.
SPIEGEL: Hinzu kamen die Angriffe aus Europa, das die islamischen Länder mit Kreuzzügen traktierte.
Flores: Die Kreuzzüge haben im muslimischen Bewusstsein keine großen Spuren hinterlassen. Eine Folge war, dass die Muslime ihrerseits unduldsamer wurden, weil Kreuzritter ja relativ barbarisch vorgingen. Das lässt sich feststellen bei den Mamluken, die ja die Kreuzfahrer letztlich besiegt haben. Sie verfolgten Andersgläubige mit größerer Härte: Schließlich hatten diese sich ja als politisch unzuverlässig erwiesen.
SPIEGEL: Im muslimischen Bewusstsein gilt die Eroberung Bagdads durch die Mongolen im Jahr 1258 als Endpunkt der Blütezeit.
Flores: Das war eines der einschneidendsten Ereignisse und symbolisch aufgeladen, weil damit das abbasidische Kalifat endgültig beendet wurde. Bagdad wurde nahezu vollständig zerstört, inklusive aller Bibliotheken: Der Tigris färbte sich angeblich blau durch die Tinte der in ihn geworfenen Manuskripte.
SPIEGEL: Trotzdem messen Sie Bagdads Fall eher symbolische Bedeutung zu.
Flores: Es gab andere Abstiegsfaktoren: etwa die Tatsache, dass man im arabisch-islamischen Raum nicht gezwungen war, für den Export zu produzieren. Man hatte relativ viele Edelmetalle und musste nicht hochwertige Waren produzieren, um Importe zu bezahlen. Für das Handwerk und dessen Qualität war das nicht förderlich. Hinzu kam, dass es in der islamischen Welt keine autonomen Städte gab. Die kapitalistische Entwicklung in Europa begann ja gerade in den Städten. Solche Autonomie, wie Venedig und andere Handelsstädte sie hatten, gab es im Orient nicht.
SPIEGEL: Ein sehr spannender Punkt! Wie war denn die Verfasstheit der arabischen Städte, von denen manche ja riesig waren – wie Alexandria, Kairo …
Flores: … sie waren in der Tat sehr groß, hier saßen das Militär, die religiösen und rechtlichen Autoritäten, hier waren Moscheen, Handwerker, Händler und Karawansereien. Fast immer saßen hier aber auch Regierungen – mit direktem Zugriff auf Wirtschaft und Finanzen.
SPIEGEL: Wann fällt dann die islamisch-arabische Welt zurück? Der Wiener Wirtschaftshistoriker Peter Feldbauer kam jüngst in einer Studie zum Ergebnis, dass die Staaten des arabisch-iranischen Raums noch bis zum frühen 16. Jahrhundert über “leistungs-, anpassungs- und innovationsfähige Ökonomien” verfügten.
Flores: Ich würde weitergehen als Feldbauer, etwa bis 1800. Noch im 17. Jahrhundert war das Osmanische Reich den europäischen Staaten in mancher Hinsicht überlegen, etwa in der Verwaltung.
SPIEGEL: Aber geistig schottete man sich ab. Gutenbergs Buchdruck, der seit Mitte des 15. Jahrhunderts in Europa für die enorme Verbreitung von Ideen sorgte, wurde von den osmanischen Sultanen lange verboten – unter Berufung auf die Religion. Erst 1727 wurde eine Presse mit arabischen Lettern genehmigt. Trotzdem machen Sie in Ihren Veröffentlichungen gerade nicht den Islam für das repressive geistige Klima verantwortlich. Wieso nicht?
Flores: Möglicherweise hat sich der Sultan gefürchtet, dass Bücher subversives Gedankengut verbreiten – aber nicht unbedingt religiös subversives.
SPIEGEL: Sie meinen, die weltliche Macht hat religiöse Gründe vorgeschoben, um Druckerpressen zu verbieten. Und damit die Entwicklung abgewürgt.
Flores: Na ja. Geistige Entwicklungen spielen in meinen Augen eine unterstützende oder hindernde Rolle – entscheidend sind sie nicht. Entscheidend sind immer wirtschaftliche Wettbewerbsvorteile oder eben Nachteile. Der Punkt, an dem Europa uneinholbar wurde, war die industrielle Revolution. Durch sie sind einige Staaten Europas so erstarkt, dass sie die ganze Welt erobern konnten. Dies ist der Knackpunkt, nicht die Stagnation der islamischen Welt.
SPIEGEL: Sie sehen also die islamische Welt ab 1500, als die europäische Expansion begann, noch nicht im Hintertreffen – sogar dann noch nicht, als sich die Europäer Amerika unter den Nagel rissen.
Flores: Interessanterweise hat ja das expandierende Europa den Kernbereich der islamischen Weltregion umgangen. Niemand fiel erobernd ins Osmanische Reich ein – offenbar weil es lange noch zu stark war. Paradoxerweise verdankten die Osmanen ihre militärische Stärke bald aber auch der Übernahme europäischer Errungenschaften. Schon im späten 17. Jahrhundert hat man Waffen aus Europa importiert, Rüstungsbetriebe mithilfe europäischer Ingenieure eingerichtet, Offiziere zur Ausbildung gerufen. Der Zeitpunkt, an dem die Machtverhältnisse unumkehrbar gekippt waren, kam zwar erst um 1800. Aber die Entwicklungen, die dazu führten, hatten sehr, sehr viel früher eingesetzt – etwa mit dem Aufstieg der italienischen Handelsstädte im 13. Jahrhundert.
SPIEGEL: Städte wie Genua, Pisa oder die Republik Venedig?
Flores: Genau. Venedig dominierte jahrhundertelang den Mittelmeerhandel, mit Dependancen bis weit in den Osten.
SPIEGEL: Apropos Handelsdependancen: Der Orientalist Bernard Lewis hat darauf hingewiesen, dass die islamische Welt lange keine Handelsniederlassungen in Europa hatte und auch keine Gesandten. Muslime durften nicht unter Ungläubigen leben, deren Sprachen sprechen, von ihnen lernen. Man reiste zwar nach Mekka, aber nicht in die Welt der Ungläubigen – weshalb man ja auch lange nichts von den Umwälzungen, die in Europa stattfanden, wusste. Wirkte da nicht doch die Religion einengend?
Flores: Nicht “die” Religion, sondern bestimmte Auslegungen. Der Islam hat ein außerordentlich breites Spektrum. Man kann sich im Koran aus widersprüchlichen Vorstellungen stets das herauspicken, was die eigenen Interessen stützt. In der Zeit der frühen Blüte hat der Islam die geistige Freiheit kaum behindert. Später scheint es dann so, als wirkte der Glaube bremsend. Doch handelte es sich dabei um die Ideologie einer bestimmten Zeit, angepasst an eine stagnierende Gesellschaft. Diese Ideologie hemmte dann zusätzlich den Fortschritt. Wahr ist aber auch, dass die Menschen gar nicht die Notwendigkeit einer Öffnung nach außen sahen. Sie fühlten sich nie in die Enge gedrängt, um nach Auswegen zu suchen.
SPIEGEL: Die Osmanen haben sogar noch 1453 Konstantinopel erobert und damit ein großes Ausrufezeichen gesetzt, auch der Vorstoß gen Balkan ging ja noch lange Zeit erfolgreich weiter …
Flores: … die Türken standen zweimal vor Wien, bis sie endgültig zurückgeschlagen wurden. Wie weit man abgeschlagen war, drang eigentlich erst während Napoleons Ägypten-Expedition 1798 ins Bewusstsein. Obwohl die Franzosen nach drei Jahren wieder abziehen mussten, begannen einige Intellektuelle nun, verstärkt Fragen zu stellen ob der verblüffenden Stärke der Europäer. Damals setzte die im Grunde bis heute andauernde Suche ein: Wie kommen wir aus dieser Unterlegenheit heraus?
SPIEGEL: Stichwort Säkularisierung. Es gibt muslimische Vordenker, die der Meinung sind, ihrer Welt habe die Trennung von Kirche und Staat gefehlt.
Flores: Ich bin nicht sicher, ob sie damit recht haben. Auch im islamischen Bereich hat es Säkularisierungsprozesse gegeben, und es gibt sie noch. Nur liefen die nicht so ab wie in Europa, wo die Konstellation relativ klar war: hier die Kirche mit ihrem Herrschaftsanspruch, dort der Staat, der sich dem manchmal gefügt hat, dann wieder nicht – ein tausendjähriger Prozess. Im islamischen Bereich ist die Konstellation nicht so klar. Der Staat selbst stellt die religiöse Organisation – zumindest in weiten Bereichen des sunnitischen Islam. De facto aber gab es auch im Islam, seit sehr früher Zeit, die funktionelle Trennung zwischen religiösem und weltlichem Bereich. Nur ist das nicht so deutlich ausbuchstabiert worden.
Martins-Dom in Mainz: Neben der kirchlichen Macht bot eine weltliche Schutz
SPIEGEL: Wie ist es mit der Aufklärung? Die islamische Welt kannte keine Aufklärung – und krankte daran?
Flores: Auch da würde ich widersprechen. Die Aufklärung entstand ja in Europa, weil sich zwei Kräfte gegenüberstanden: die Absolutisten und die, die gegen die Herrschaft des Gottesgnadentums aufstanden- eben die Aufklärer. Im islamischen Bereich gab es diese Konstellation so nicht. Dort rangen aber von Anfang an aufklärerische und dogmatische Positionen miteinander. Das können Sie im Koran sehen, wo etliche Male zum Vernunftgebrauch aufgerufen wird. Der Koran versucht besonders in seinen frühen kurzen Suren, die Leute durch rationale Argumente zu überzeugen, indem er etwa sagt: Guck dir doch die Natur an, wie Leben mit Embryonen beginnt – alles rationale Argumente für die Existenz eines Gottes. Aber es gab im Islam eben auch immer den schlichten Köhlerglauben und Tendenzen, die wir heute als salafistisch bezeichnen.
SPIEGEL: Aufklärung im Westen war vor allem dadurch möglich, dass es neben der kirchlichen Macht eine weltliche gab, die Schutz bieten konnte, wenn ein Denker wie Voltaire die Kirche lauthals verdammte. In einem Staatswesen, in dem der Sultan auch der Kalif ist, wäre solche Kritik doch undenkbar.
Flores: Zumindest schwierig. Aber in gewissen Phasen ging auch das. Noch am Ende des 19. Jahrhunderts war es vielerorts leichter als heute, aufklärerische Gedanken zu äußern. Heute stehen sich die Blöcke unversöhnlich gegenüber. Aufklärerische Tendenzen als Reaktion auf den Fundamentalismus gibt es zwar; sie dringen aber kaum durch.
SPIEGEL: 1867 klagte der osmanische Schriftsteller Namik Kemal, dass “unsere Frauen als Wesen betrachtet werden, deren einziger Lebenszweck darin besteht, Kinder zu bekommen”. Inwieweit behindert die anhaltende Unterdrückung der Frau die Entwicklung in der muslimischen Welt?
Flores: Wenn die Hälfte der Bevölkerung im öffentlichen Raum und im Produktionsprozess ausgeschlossen wird, behindert das, keine Frage, gesellschaftliche Entwicklung. Vor allem aber ist das eine große Krux für die Betroffenen selbst.
SPIEGEL: Und das hat wieder nichts mit dem Islam zu tun? Muslime wie Kemal, die das Europa des 19. Jahrhunderts besuchten, beschrieben schon damals, wie viel respektvoller Frauen hier behandelt würden, und fragten sich, ob das vielleicht an der Marienverehrung liege.
Flores: Die Unterdrückung der Frau liegt an bestimmten Versionen des Islam, die man während des abbasidischen Kalifats in Rechtsform gegossen hat. Für das Verhalten von Frauen wurden damals Normen übernommen, die in Städten wie Bagdad, Basra oder Kufa als vornehm galten. Zu Mohammeds Zeiten hatten Frauen noch viel mehr Einfluss gehabt – und auf dem Land liefen sie sowieso nicht verschleiert herum.
SPIEGEL: Bernard Lewis erklärte den “Untergang des Morgenlandes” in seinem gleichnamigen Buch damit, dass viele Muslime meinten, die bessere, neuere Version des alten, teilweise falschen Glaubens der Christen zu haben und daher per se überlegen zu sein. Die reale Überlegenheit der Europäer interpretierten manche dann als Folge der eigenen Glaubensschwäche.
Flores: Ach was! Die meisten haben sich über das Christentum keine Gedanken gemacht. Sie waren wie so viele Anhänger einer Religion der Überzeugung, dass ihr Glauben der beste sei. Im 19. Jahrhundert spaltete sich die Gesellschaft dann in Traditionalisten, die am Islam so, wie er war, festhalten wollten, und Modernisten, die das Gegenteil propagierten. Seit dem Beginn der Kolonialherrschaft streiten sich Intellektuelle und Politiker darüber, wie viel vom Eigenen – also der eigenen Identität – behalten werden muss, um nicht im Anderen unterzugehen, und wie viel man übernehmen sollte. Das große Problem, nämlich die Abhängigkeit vom Westen, ist ja bis heute nicht behoben – trotz allen Ölreichtums.
SPIEGEL: Herr Professor Flores, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.